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Der Marathon hat erst begonnen

Eine frühe Lockerung der Corona-Maßnahmen in Österreich wäre verantwortungslos.


Wann können die Corona-Maßnahmen in Österreich gelockert oder beendet werden?
Wer sich auf diese derzeit häufig gestellte Frage eine konkrete Antwort in Form eines Datums erwartet oder erhofft, ist leider weltfremd. Die Antwort liefert nämlich nicht der Kalender, sondern die derzeit nur grob abschätzbare Entwicklung der Corona-Statistik. Um beim bereits angestellten Vergleich mit einem Marathon zu bleiben: Man weiß, dass ein Marathon nach 42,195 km zu Ende ist. Wie lange man für diese Strecke braucht, ist aber individuell verschieden. Ja, ein Marathon kann in zwei Stunden erledigt sein, aber nur für einen Weltrekordläufer unter idealen Bedingungen.
Solange die Zahl der Corona-Infektionen und der Bedarf an Intensivbetten steigen, kann kein verantwortungsvoller Mensch eine Lockerung der Maßnahmen befürworten. Vielmehr ist zu fordern, dass erst dann, wenn die Zahl der akuten Fälle sinkt und unter jene der von CoVid-19 Genesenen fällt, langsam daran gedacht werden kann, in kleinen Schritten zur „Normalität“ – die eine andere als früher sein wird – zurückzukehren. Eine Vorbedingung wäre, dass ein möglichst hoher Anteil der Bevölkerung getestet wird, um festzustellen, wie viele Menschen Antikörper gegen das Virus entwickelt haben. Diese Personen sollten je nach Qualifikation und Bedarf vorrangig wieder in jenen Bereichen der Arbeitswelt eingesetzt werden, wo ein Sicherheitsabstand hinderlich ist.
Fast alle, insbesondere Politiker, aber auch etliche Mediziner, haben die Gefahr lange Zeit unterschätzt. Die Corona-Pandemie wurde mit der Grippe verglichen, die ersten Gegenmaßnahmen erschienen vielen als „überzogen“. Heute weiß man, dass die Mortalitätsrate jene der Grippe deutlich übertrifft und eine gleichzeitige Erkrankung vieler Menschen die Kapazitäten des Gesundheitssystems sprengt. Doch obwohl die Zahl der Infektionen nach wie vor zunimmt, erheben sich ständig Stimmen, denen die Einschränkungen schon zu lange dauern. 
Dazu ist in aller Deutlichkeit zu sagen: Lieber jetzt zwei, drei Wochen länger mit Lockerungen warten als nach einer möglichen massiven Wiederkehr des Virus ein halbes Jahr in einem Ausnahmezustand zu leben. Wenn eine Diktatur wie China drei Monate zur Bewältigung der Krise gebraucht hat, darf die Demokratie Österreich auch so lange brauchen. 
Der Zeitpunkt, an dem Entspannung eintritt, könnte – relativ – nahe sein, würden wir alle geduldig und diszipliniert agieren. Das scheint aber eine Illusion zu sein. Während sich die meisten Menschen vorbildlich verhalten, während viele mit größtmöglichem Einsatz um das Leben von Kranken kämpfen oder die Infrastruktur dieses Landes aufrecht halten, halten andere eine Umgehung der Maßnahmen für ein Kavaliersdelikt, wenn nicht sogar für ihr gutes Recht.
Genau jene, die sich über die gegenwärtigen Maßnahmen hinwegsetzen – und das sind leider noch viel zu viele –, tragen entscheidend dazu bei, dass wir vielleicht noch Monate statt Wochen, was sonst durchaus möglich wäre, mit diesen Einschränkungen werden leben müssen.

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von

Dr. Heiner Boberski

geb. 1950, Studium der Theaterwissenschaft und Anglistik in Wien; 1978–2001 Redakteur der Wochenzeitung "Die Furche", ab 1995 deren Chefredakteur; 2004-2015 Journalist bei der "Wiener Zeitung"; derzeit freier Journalist. Autor mehrerer Sachbücher, vorwiegend zu Fragen der Religion. Er ist verheiratet und hat drei Kinder.

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