Allgemein, Buchrezensionen, Texte, Top-Feature
Schreibe einen Kommentar

Die Iden des März 1938

Gerhard Jelineks neues Buch liefert eine Chronik der letzten Wochen vor dem Untergang der Ersten Republik Österreich.

„Es gab nie einen schöneren März.“ Ein solcher Satz über das Jahr 1938 könnte als politische Aussage eines Ewiggestrigen missdeutet werden. Er stammt aber von einer in dieser Hinsicht völlig unverdächtigen Person, von dem katholischen Priester Johannes Oesterreicher, der wegen seiner jüdischen Herkunft aus Österreich ins Exil flüchten musste, und bezieht sich nur auf das damalige Wetter. Oesterreicher machte sich später vor allem als Wegbereiter des christlich-jüdischen Dialogs und der bahnbrechenden Erklärung „Nostra aetate“ des Zweiten Vatikanischen Konzils zur Aussöhnung der katholischen Kirche mit dem Judentum einen Namen.
Indem der ORF-Journalist Gerhard Jelinek Oesterreichers Aussage als Titel für sein neues Buch wählt, zeigt er auf, dass auch menschenverachtenden Diktatoren und ihren Schergen Sonnenschein und blauer Himmel zu Hilfe kommen können. Im Vorwort schreibt der Bestseller-Autor: „Im März 1938 scheint die Sonne deutlich öfter als im jahrzehntelangen Durchschnitt. Es regnet auch um ein Drittel weniger. Zwei Tage nach der Okkupation der Alpenrepublik durch Hitlers Armee und der Machtübernahme der Nationalsozialisten bricht der Frühling aus. Die Höchsttemperaturen steigen in Wien bis zum 22. März auf fast 21 Grad. Anfang April blüht schon der Flieder.“
Das Buch liefert eine Tageschronik der „30 Tage bis zum Untergang“, beginnend mit dem 11. Februar und endend mit dem 12. März 1938, wobei Jelinek jeden Abschnitt mit dem Wetterbericht des jeweiligen Tages einleitet. Er verarbeitet Zeitungsmeldungen, stellt die beschriebenen Ereignisse und Personen in einen historischen Rahmen und überschüttet – auch mit Hilfe einer Fülle von klug verwerteter Literatur und von Material einzelner Zeitzeugen – seine Leserschaft mit mehr oder minder interessanten Informationen. Die Abtragung der Reste der alten Reichsbrücke am 11. Februar 1938 gibt zum Beispiel Gelegenheit, an den Einsturz ihrer Nachfolgerin am 1. August 1976 zu erinnern. Einen Zeitungsartikel vom 12. Februar über Schüler, die aus Angst vor Bestrafung kopflos handeln, bringt Jelinek in Beziehung zu Friedrich Torbergs Roman „Der Schüler Gerber“ aus dem Jahr 1930.
Jelinek erinnert nicht nur an eine große sportliche Epoche („Wien ist 1938 Welthauptstadt des Eiskunstlaufs“), sondern auch an unzählige Persönlichkeiten, die damals ein blühendes Kultur- und Geistesleben prägten, ehe sie aus Österreich vertrieben wurden. Das Titelbild des Buches zeigt die jüdische Sängerin Marta Eggerth, die im Februar 1938 kurz nach der Premiere ihres Musikfilms „Immer, wenn ich glücklich bin …“ nach Amerika reist – mit ihrem berühmten Mann Jan Kiepura und dessen jungem Sekretär, dem späteren „Opernführer“ mit Plastiksackerl-Archiv Marcel Prawy. Ein anderes Beispiel ist der Pharmakologe Otto Loewi, 1936 Nobelpreisträger für Medizin, der nach dem „Anschluss“ inhaftiert wird und dem die Nazis sein Nobelpreisgeld abpressen, ehe er in die USA flüchten kann.
„Das österreichische Requiem beginnt mit einem Walzer“, schreibt Jelinek und stellt der Wiener Ballsaison 1938 die politischen und militärischen Entwicklungen gegenüber. Mitte Februar wird Bundeskanzler Kurt Schuschnigg von Adolf Hitler auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden mit einem Ultimatum konfrontiert, das Österreich letztlich akzeptieren muss. Als nach wochenlangem Tauziehen die Iden des März nahen, stehen die deutschen Truppen zum Einmarsch bereit an der Grenze. Schuschnigg gibt auf und verkündet am Abend des 11. März im Radio, „dass wir der Gewalt weichen“. Die Nationalsozialisten haben gesiegt.
Jelinek erinnert daran, wie gespalten die österreichische Bevölkerung dem „Anschluss“ Österreichs an das Deutsche Reich gegenüberstand – es gab Millionen, die jubelten, aber auch Millionen, die trauerten und begründete Angst vor der Zukunft hatten. Der Autor hat sein Buch den Zeitzeugen, die er noch interviewen konnte, den unmittelbar Leidtragenden und seinen Großeltern, die sich „von den braunen Bolschewiken“ nicht einschüchtern ließen, gewidmet.

„Es gab nie einen schöneren März“ – 1938 – Dreißig Tage bis zum Untergang
Gerhard Jelinek
Amalthea Verlag, Wien, 320 Seiten, 25 Euro

Schreiben Sie einen Kommentar

Ihre E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert